Die „Nach-Mauer-Generation“ hat viele Fragen
Warsteiner Gymnasiasten setzen sich differenziert mit dem Tag der Deutschen Einheit auseinander
Sie kennen Deutschland nur als ein Land, eine Teilung in Ost und West ist für sie unvorstellbar: Als die angehenden Abiturienten des Warsteiner Gymnasiums auf die Welt kamen, war die Deutsche Einheit Fakt, ihre Umsetzung in vollem Gange. Selbst „normale“ Grenzen haben diese jungen Menschen innerhalb Europas nie kennengelernt: Als sie 1997 oder 1998 geboren wurde, war das Schengen-Abkommen bereits zwei Jahre in Kraft getreten. Was bedeutet für diese Generation der heutige 25. Jahrestag der Deutschen Einheit? Es ist ein Tag, den sie nur aus Erzählungen kennen, aus Dokumentationen im Fernsehen und aus dem Geschichtsunterricht. Wir haben den Sozialwissenschaftskurs von Cornelia Brandt besucht und genau das gefragt: Wie erlebt ihr die deutsche Einheit? Die Diskussion, die daraus entstand, war erstaunlich offen, reflektiert und schlug den Bogen von der Teilung Deutschlands über die Wiedervereinigung bis zur aktuellen Flüchtlingskrise. Und sie zeigte, dass auch für die „Nach-Mauer-Generation“ der heutige Tag irgendwie ein besonderes Datum darstellt.
Man muss diesen Tag für uns begreifbarer machen
Jeanne-Marie (18)
Ich finde es ganz schwierig, mich in die Menschen damals hineinzuversetzen. Ich kann mir das nicht vorstellen, wie ein geteiltes Land sein mag. Wenn hier Leute sagen, die aus’m Osten, die sind anders, finde ich das seltsam. Wir sind doch ein Land, da gibt es Orte, die haben Namen, da muss man doch nicht sagen: Die aus’m Osten. Man müsste diesen Tag der Deutschen Einheit für uns, die danach geboren sind, begreifbarer machen. Es muss deutlicher werden, worum es geht. Wir feiern Ostern bewusster und größer als diesen Tag – aber war jemand von uns Ostern dabei? Nein. Aber beim Tag der Deutschen Einheit waren unsere Eltern dabei, das müsste für uns doch eigentlich viel bedeutsamer sein.
Wir sind doch ein Land
Jendrik (17)
Die Mauer ist erst so ganz weg, wenn wir aufhören, die Gehälter in Ost und West ständig miteinander zu vergleichen, denke ich. Das ist in vielen Umfragen immer noch so, dass da unterschieden wird zwischen Ost- und Westdeutschland. Dabei sind wir doch ein Land. Ich glaube, dass solche einschneidenden Ereignisse wie der Mauerfall einen Menschen prägen; sie verändern dich, egal, ob sie positiv oder negativ sind. Insofern finde ich es ein bisschen schade, dass wir das nicht erlebt haben. Ich glaube nicht, dass die Flüchtlingskrise uns persönlich so prägen wird, wie es der Mauerfall vielleicht mit unseren Eltern gemacht hat. Aber ich denke auch, dass wir als Generation, als Gesellschaft durch die Flüchtlingskrise eine Entwicklung durchlaufen, die es sonst nicht gegeben hätte.
Wir kennen Grenzen doch gar nicht wirklich
Charlotte (17)
Meine Großeltern haben Verwandte in Ostdeutschland. Sie haben mir davon erzählt, wie das war, da rüber zu fahren und wie ihr ganzes Auto an der Grenze auseinandergenommen wurde. Ich finde das ganz schwer, sich das vorzustellen. Ich war vor zwei Monaten in Ungarn, am Bahnhof in Budapest. Wenn ich jetzt die Bilder sehe, dass dort keine Züge mehr fahren und die Menschen nicht wissen, wo sie bleiben sollen, frage ich mich: Was wäre, wenn ich jetzt dort wäre? Wir kennen Grenzen doch gar nicht wirklich, wir fahren einfach von einem Land ins andere. Den Feiertag zur Deutschen Einheit finde ich irgendwie merkwürdig: Ich habe gesehen, wie die Franzosen ihren Nationalfeiertag begehen, da ist überall eine riesige Party. Und bei uns? Da laufen jedes Jahr die gleichen Dokumentationen im fernsehen und das war’s.
Leider hat allein das Wort Osten einen faden Beigeschmack
Lukas (18)
Ich finde allein das Wort „Osten“ schon irgendwie merkwürdig, wenn man es in Deutschland sagt. Ich kann das gar nicht wirklich erklären, aber irgendwie klingt das so, als gehe man gedanklich zurück in die Zeit, als unser Land geteilt war. Klar, wir sprechen auch von Nord- und Süddeutschland, aber diese Bezeichnungen sind viel eindeutiger geografisch gemeint, als wenn man von „Ostdeutschland“ spricht. Vielleicht liegt es auch an dem Kontext, in dem man Menschen vom „Osten“ reden hört. Meistens sind es negative Sachen: die Gehälter sind viel niedriger, die Gewalt höher, die Infrastruktur schlechter. Irgendwie hat dadurch allein das Wort „Ostdeutschland“ schon einen faden Beigeschmack. Das finde ich schade.
Ich kann mir ein geteiltes Land gar nicht vorstellen
Julia (17)
Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist, in einem geteilten Land zu leben. Das ist jetzt so normal, dass Deutschland ein Land ist. Meine Großeltern haben mir davon erzählt, wie sehr sie sich gefreut haben, als die deutsche Wiedervereinigung Realität wurde. Sie leben damals in der ehemaligen DDR – für mich ist das heute nur ein anderes Bundesland, in dem sie wohnen. Was mich stört, sind diese Aussagen über „typische Ostdeutsche“: Was ist denn bitteschön typisch ostdeutsch? Einen anderen Dialekt gibt es auch in Süddeutschland. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren und sagen: So sind halt die Ostdeutschen. Viele stellen die neuen Bundesländern immer als arm dar, als wenn man dort jedem Haus ansehen würde, dass alles zerfällt. Dabei sieht es da doch genauso aus wie bei uns. Zumindest wir kennen die Städte nur so.